Schreibwut im Parallelforum "bücher.m@cher.de - Überleben im Internet": Unter diesem Titel ging im Leipziger Haus des Buches die dritte Folge der Veranstaltungsreihe über die Bühne, mit der der Börsenverein Begegnungsräume für die Büchermacher von morgen schaffen will Real Video-Aufzeichnung der dritten bücher.macher- Nacht Teil 1, Teil 2, Teil 3 Das Land der Dichter und Denker - ein einig Volk von Usern und Surfern? Ringsum - ein einzig Klicken, Chatten und Downloaden. Sind die letzten Tage von Buch und Buchhandel traditionellen Zuschnitts gezählt? Ende der Gutenberg-Galaxis - oder schöne neue Bücher-Welt? Beim dritten Abend der Börsenvereins-Reihe "bücher.macher - Unterwegs in der deutschen Verlagslandschaft" drehte sich im mit überwiegend studentischem Publikum gut gefüllten Leipziger Haus des Buches fast alles ums Internet - und die Herausforderungen, die das noch junge Mega-Medium für Autoren, Verleger und Buchhändler, aber auch für Millionen von Lesern bereithält. René Kohl, der sich nach Stationen bei Gatza, Rotbuch und Bollmann mit seiner Online-Buchhandlung Kohlibri selbständig machte und nun für die Berliner Netz-Agentur TXT arbeitet, Mount Media-Projektleiterin Christiane Munsberg und der Autor und Übersetzer Reinhard Kaiser ("Literarische Spaziergänge im Internet", Eichborn) unternahmen zunächst einem Parforceritt durch die literarische Online-Welt. Die zum Bertelsmann-Konzern zählende VVA-Tochter Mount Media und der Online-Dienstleister aus dem Prenzlauer Berg scheinen sich auf den ersten Blick wie David und Goliath gegenüberzustehen: Auch virtuell wird - wie im wirklichen Leben - in Nischen geangelt und mit dem Schleppnetz gefischt. Doch das Internet wird von Medienzwergen, die aus den Regalen der Buchhandlung um die Ecke zunehmend verschwinden, in wachsendem Maß als "demokratisches Forum" verstanden - oder, wie Kohl meinte, "Robin-Hood-mäßig" umgenutzt. TXT bietet seit fast zwei Jahren eine Plattform für kleinere Verlage; mehr als dreißig sind es inzwischen, von Alexander und Chr. Links bis Junius, Merve oder Wagenbach. Während die Berliner derzeit etwa über Wagenbach-Quarthefte auf Kleinst-Bestellung nachdenken, druckt man bei Mount Media schon länger on demand: Mit Reparaturanleitungen für Autohäuser erweitert man an der Autobahn bei Gütersloh schon mal den Literaturbegriff. Geboten werden auf dem Medien-Berg, auf dem mittlerweile mehr als 70 Verlage und 50 Buchhandlungen versammelt sind, jedoch vor allem Nachrichten rund ums Buch, Gewinnspiele, Foren, Live-Chats mit prominenten Autoren und ein Online-Katalog mit 220 000 lieferbaren Titeln. Reinhard Kaiser geriet durch seine Recherche-Arbeit als Übersetzer auf Internet-Pfade - aus professioneller Neugier. Ein Medium, das wie eine riesige Bibliothek funktioniert? Wunderbar! Kaiser kaufte ein Modem und machte sich auf die Socken. Allen Unkenrufen über die hereinbrechende Springflut der Informationen, Bilder und Zeichen zum Trotz hält er den Leser bestens für die Herausforderungen des Internet gerüstet. Der nämlich vagabundierte schon immer in virtuellen Welten, weiß aber zugleich, das Surfen auf Dauer kein angemessener Umgang mit Texten sein kann. Damit sprach Kaiser dem Moderator des Abends wohl aus der Seele. Hajo Steinert, verantwortlich fürs literarische Programm des Kölner Deutschlandfunks, schlüpfte im Kreis der Netz-Enthusiasten in die Rolle des Advocatus Diaboli. Wo bleibt, bitte sehr, unter all den Usern der Leser? Wandelt er sich zur zappenden, selbstreferientiellen Monade? Keine Gefahr, beschied die Runde: Die unterschiedlichen Medien, bewußt eingesetzt, können sich sehr wohl gut ergänzen. Daß Wellenreiter im Netz nicht selten aktivere Leser, sondern auch bienenfleißige Schreiber sind, bekam Matthias Politycki am eigenen Werk zu spüren. Sein "Weiberroman" (Luchterhand) war der Überrschungs-Renner des Büchersommers 1997. Der Autor ahnte nichts Böses, als ihm Gerald Giesecke von der Online-Redaktion des ZDF-Kulturmagazins Aspekte vorschlug, den nächsten Roman ins Netz zu stellen. Gesagt, getan: Seit gut einem Jahr läßt sich Politycki beim täglichen Handwerk über die Schulter schauen: Gregor Schattschneider, der glücklose Weiber-Held, ist in den Neunzigern angekommen, auf Kristina, Tania und Katarina folgt "Marietta" ). In Leipzig demonstrierten Politycki und Giesecke, in welch aberwitzige Situationen das vernetzte Publikum den Autor einer "Novel in progress" stürzen kann: Die Titelheldin wird von den Usern per "Weibausschreiben" gecastet, noch bevor der erste Satz getippt ist; in einem eigens eingerichteten "Parallelforum" dichten Aktivisten des Mainzer Literaturbüros Gregor S. ein uneheliches Kind an. Mit Grausen schaut der Autor auf seinen leeren Bildschirm, der ihm angesichts wachsender Textgebirge seiner Leser noch leerer dünkt. Schlußendlich macht er auch seine Notate auf Bierfilzen und Zeitungsrändern allgemein zugänglich. 295 Seiten "Marietta"-Schnipsel stehen inzwischen im Netz; Polityckis Buchvertrag über 240 Seiten ist schon jetzt übererfüllt - das Medium schlägt unverkennbar auf die Produktionsweise durch. Die Heidelberger Heldinnen aus Thomas Meineckes neuem Roman "Tomboy" (Suhrkamp), so darf vemutet werden, hätten die Teilnahme an einem von Männern ausgedachten "Weibausschreiben" entrüstet von sich gewiesen. Meinecke selbst war mit schwerem Plattenkoffer aus München angereist und legte nach seiner Lesung in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung als DJ im Haus des Buches auf. Schon am 8. Februar steht Meinecke erneut auf einer Leipziger Bühne: Diesmal wird er mit seiner Band F.S.K in Ilses Erika die neue Platte "Tel Aviv" (Real Audio Hörprobe: Taunus Anlage) vorstellen. Studenten der Fachklasse Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) stellten die dritte bücher.macher-Nacht live ins Netz - bis Mitternacht verzeichnete der HGB-Server mehr als 50 Zugriffe. Währenddessen wurden - offline, bei Bier vom Faß - alte Kontakte aufgefrischt und neue geknüpft: Mount Media wird im Frühjahr Studenten der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) nach Gütersloh laden; TXT hat unter den jungen Büchermachern einen neuen Praktikanten gefunden. |