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Round Table mit
Ulrich Greiner, Journalist, Ressortleiter Literatur, Die Zeit,
Hamburg
Gerhard Haderer, Cartoonist, Graz
Helge Malchow, Verleger, Kiepenheuer & Witsch, Köln
Elke Monssen-Engberding, Vorsitzende der
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, Bonn
Georg M. Oswald, Schriftsteller und Jurist, München
Moderation: Denis Scheck, Deutschlandfunk, Köln
Donnerstag, 25. März 2004, 14.00 Uhr, Neue Messe
Congress Center Leipzig CCL, Mehrzweckfläche 1
Eine Veranstaltung des Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.
V. / Leipziger Büro in Zusammenarbeit mit der Leipziger Buchmesse
Fotos:
Leipziger Messe / Frauendorf
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Büchermarkt "Bücher
vor Gericht" / Deutschlandfunk - Real Audio / 21:25 |
Pressestimmen
Was darf Literatur? In jüngster Zeit immer weniger, wenn man an
die Prozesse denkt, die um Bücher wie Maxim Billers Roman Esra
oder Alban Nikolai Herbsts Meere angestrengt wurden. Der
Cartoonist Gerhard Haderer, der Verleger Helge Malchow von Kiepenheuer
& Witsch, der Rechtsanwalt und Schriftsteller Georg M. Oswald und
der Zeit-Redakteur Ulrich Greiner versuchten unter tätiger
Mithilfe des Moderators Denis Scheck, den Ursachen für die derzeitige
Gereiztheit nachzugehen.
Die Gerichte seien derzeit immer weniger gewillt, fiktionale Texte anders
als journalistische zu behandeln: Diesen Verständniswandel findet
Haderer, vom österreichischen Bundeskanzler Schüssel immerhin
als Schundzeichner apostrophiert, erschreckend: In welchem
Jahrhundert man eigentlich lebe? In jenem der Nachmittagstalkshows,
war sich die Runde schnell einig. Aber auch, wenn die Medien oft schuld
sind - für alle Aberrationen wollte sie dann doch niemand haftbar
machen. Greiners sublime Unterscheidung zwischen Privat- und Imtimsphäre
ist zwar juristisch nicht ganz belegbar, trifft aber doch im Kern die
Sache. Der Betroffene solle die Möglichkeit haben, glaubhaft zu
machen, er sei nicht gemeint gewesen.
Oswald wies auf den fatalen Kurzschluß hin, dem die Rechtsprechung
derzeit aufsitze: daß die Wiedererkennbarkeit der Person irgendwelche
Rückschlüsse auf den Kunstcharakter des Buches zulasse. Helge
Malchow ging noch einen Schritt weiter. Er fürchtet am Ende die
Schleifung der Zitadelle Kunstfreiheit. Vorhang zu, alle Fragen offen?
Zumindest das wurde klar: Mit einem gefühlsmäßigen Rechtsempfinden
kommt man der Sache nicht bei, da bliebe man ein weiteres Mal im Reich
der Fiktion.
Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Elke Monssen-Engberding, die Vorsitzende der "Bundesprüfstelle
für jugendgefährdende Medien" in Bonn, konnte leider
nicht nach Leipzig kommen. Sie hatte keinen Flug mehr bekommen, um der
Einladung an einer Diskussionsrunde über "Bücher vor
Gericht" Folge leisten zu können - und eine Fahrt mit dem
Zug erschien ihr zeitlich nicht vereinbar mit den vielfältigen
Aufgaben einer Bundesprüfstellenvorsitzenden. Als der Moderator
Denis Scheck die Absage von Monssen-Engberdings Sekretariat vorträgt,
ist das Erstaunen im Auditorium der Mehrzweckhalle 1 des Leipziger Congress
Centrums groß.
Wirklich vermisst wurde die Dame von der Bundesprüfstelle aber
nicht - die Runde war auch so kompetent genug, um über die zuletzt
zahlreichen gerichtlich ausgesprochenen und die Literatur in ihren Grundfesten
erschütternden Buchverbote zu diskutieren.
Denn im Folgenden beleuchteten die verbliebenen fünf Herren, unter
anderem der Schriftsteller und Anwalt Georg M. Oswald und Zeit-Literaturchef
Ulrich Greiner, von allen Seiten den plötzlich massiv und scharfkantig
auftretenden Gegensatz von dem Recht auf Kunstfreiheit und dem auf Privatsphäre.
Wo fängt die Kunst an, gerade in Zeiten, in denen viele Journalisten
und "mediokre Semipromis" haufenweise Bücher schreiben?
Wo muss der Schutz der Privat-, vor allem aber der Intimsphäre
einsetzen? Wird auf dem Rücken der Literatur ein Kampf ausgetragen,
der eigentlich mit der Talkshow-Inflation und dem damit verbundenen
Exhibitionismus der Gesellschaft zu tun hat?
Wurden an diesem Buchmessendonnerstag wieder einmal die bekannt diffizilen
Problemstellungen diskutiert - auch unter Einbeziehung von Thomas Mann
und Klaus Mann, von Theodor Fontane und dem mit einer "Effi Briest"-Version
viel erfolgreicheren Zeitgenossen von ihm, einem Autor namens Spielhagen
-, so waren vor allem die Neuigkeiten interessant, die "Esra"-Verleger
Helge Malchow sozusagen frisch aus dem Gerichtssaal hatte: Inzwischen,
so Malchow, hätten die Anwälte der Gegenseite schon Rezensionen
von Billers neuem Buch "Bernsteintage" vorgelegt, um zu beweisen,
dass Biller geradezu ein Wiederholungstäter sei und immer wieder
sein eigenes sowie fremde Leben zu schlüpfriger und persönlichkeitsverletzender
Literatur mache.
Ein begabter Schriftsteller werde auf diese Weise aus der Literatur
expediert, orakelte Malchow düster, und auch Denis Scheck wusste
von einem bekannten Schriftsteller, der ihn um Rat gefragt hätte,
da er fürchte, für seinen im Herbst erscheinenden neuen Roman
eine einstweilige gerichtliche Verfügung ins Haus gestellt zu bekommen.
Schwere Zeiten also für die Literatur. Biller habe mit "Esra"
einen gezielten Angriff auf seine Exfreundin geplant, ereiferte sich
nach der Veranstaltung jedoch ein Kollege vom Radio, schon nach ein
paar Seiten sei das klar gewesen. Die Figur der Esra und ihrer Mutter
habe man schlicht und einfach per Google rausfinden können! Aber
welcher Leser ergoogelt sich schon die realen Personen hinter den literarischen
Figuren?
Gerrit Bartels, Die Tageszeitung
Die Branche feierte, doch vergaß sie dabei nicht, ihre eigenen
Umwälzungen zu reflektieren. In einer Diskussionsveranstaltung
mit dem Titel "Bücher vor Gericht" saßen unter
anderem Helge Malchow, Verlagsleiter von Kiepenheuer & Witsch, der
Literaturkritiker Ulrich Greiner und der schreibende Rechtsanwalt Georg
M. Oswald. Während Oswald angesichts der Prozesse um die Romane
Maxim Billers und Alban Nikolai Herbsts von der "Allzweckwaffe
Wiedererkennbarkeit", die sich gegen die Literatur richte, sprach,
merkte Greiner zu Recht an, dass es zum gegenwärtigen Selbstverständnis
mancher Autoren gehöre, justitiabel zu werden. Dieser Trend zum
Buch als Ereignis, hinter dem der literarische Wert verschwindet, wurde
von Helge Malchow als eine Gefährdung der Freiheit der Fiktion
gedeutet.
Christoph Schröder, Frankfurter Rundschau
Die Podiumsteilnehmer
Ulrich Greiner, geboren 1945 in Offenbach am Main, studierte nach
dem Abitur in Frankfurt und Tübingen Germanistik, Philosophie und
Politikwissenschaft. Von 1970 bis 1980 arbeitete Greiner im Feuilleton
der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", 1980 wechselte er zur
Hamburger
Wochenzeitung "Die
Zeit". Von 1986 bis 1995 war er Feuilletonchef der "Zeit",
seit 1998 leitet er das Literatur-Ressort.
Gerhard Haderer, (hinten) geboren 1951 in Leonding/Oberösterreich.
Nach der Fachschule für Gebrauchsgrafik in Linz arbeitete er mehrere
Jahre als Werbegrafiker. Seit 1985 gibt es von ihm regelmäßig
satirische Zeichnungen in Zeitschriften und Magazinen wie Stern,
profil, Geo und Trend zu sehen.
Haderer lebt und arbeitet in Linz. Sein Buch Das Leben des Jesus
(Ueberreuter 2002)
zeigt Jesus als weihrauchberauschten Hippie - und sorgte damit in Österreich
für erbitterten Streit: Wiens Kardinal Schönborn sah die Fundamente
der Demokratie gefährdet, Bundeskanzler Schüssel sprach
gar von Schundzeichnungen. Im März erscheint Haderers
neues Buch Die glorreichen Drei - ein Western mit Reagen,
Clinton und Bush.
Helge Malchow, 53, war nach dem Studium (Germanistik, Sozialwissenschaft
und Philosophie) Deutschlehrer an einem Gymnasium in Köln, trat
aber 1981 aus dem Schuldienst aus. Nach einem Volontariat im Verlag
Kiepenheuer &
Witsch arbeitete er 1984 als Lektor der KiWi-Reihe. 1993 wurde er
Cheflektor und Anfang 2002 als Nachfolger Dr. R. Neven DuMont Verleger
bei Kiepenheuer & Witsch.
Georg M. Oswald wurde 1963 in
München geboren und lebt dort als Schriftsteller und Jurist. Seit
1994 ist er als Rechtsanwalt tätig. Oswald hat einen Band mit Erzählungen
und mehrere Romane veröffentlicht; Alles was zählt
(Hanser 2000) wurde bisher in 12 Sprachen übersetzt. Soeben ist
im Rowohlt Verlag
sein neuer Roman Im Himmel erschienen.
Denis Scheck, geboren 1964 in Stuttgart, ist Literaturredakteur
beim Kölner Deutschlandfunk. Nach dem Studium der vergleichenden
Literaturwissenschaft und Zeitgeschichte in Tübingen, Düsseldorf
und Dallas hat er als literarischer Agent, übersetzer, Lektor und
freier Kritiker gearbeitet. Das Spektrum der Bücher, die er ins
Deutsche gebracht hat, reicht von Kriminalromanen der britischen Schriftstellerin
Ruth Rendell über Romane und Erzählungen von Michael Chabon
("Die Geheimnisse von Pittsburgh") bis hin zu Prosa von Robert Stone.
Für seine Arbeiten zur amerikanischen Gegenwartsliteratur ("Hellīs
Kitchen") und sein Lexikon über Trivialmythen made in USA ("King
Kong, Spock & Drella") wurde er mit dem Kritikerpreis des deutschen
Anglistentags ausgezeichnet. Bis 2002 war Scheck Juror beim Klagenfurter
Ingeborg- Bachmann-
Wettbewerb. Seit Februar 2003 präsentiert er unter dem Titel
"Druckfrisch!"
das Bücher-Magazin der ARD.
Was darf Literatur?
Dank an: goldwiege
/ visuelle projekte und Beck
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